Vor mehr als 70 Jahren war sich die Weltgemeinschaft einig: Grundlegende Rechte sollen allen Individuen, unabhängig von Staatszugehörigkeit, Geschlecht, Sprache, politischer Ausrichtung, ethnischem, religiösem oder kulturellem Hintergrund zukommen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war geboren. Was sich die (bis auf wichtige Ausnahmen männlichen) Staatenvertreter in Hinblick auf den Respekt, die Wertschätzung und die Ernsthaftigkeit, mit denen die Menschheit diesen Rechten sieben Jahrzehnte später gegenübertritt, vorgestellt haben mögen – wir werden es nie wissen. Was wir heute sehen, gibt in vielerlei Hinsicht aber kaum Anlass zu Hoffnung, dass die letzten Jahrzehnte – zumindest in menschenrechtlicher Hinsicht – als eine Form des moralischen Fortschritts gewertet werden können.

Die Herausforderungen, mit denen sich die Idee der Menschenrechte heute konfrontiert sieht, sind vielerlei. Auf der politischen Ebene zeigt sich weltweit eine zunehmende Bereitschaft zum Flirt mit nationalistischen Ideologien und deren Umsetzung mittels autoritär gefärbter Massnahmen. Errungenschaften wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, deren Triumph die Zeit nach Ende des Kalten Krieges prägten, scheinen ihr Gewicht zu verlieren – und mit ihnen sehen sich auch die grundlegenden Rechte von Individuen zunehmenden Attacken ausgesetzt. Die Grund- und Menschenrechte, welche eigentlich als Vorbedingung für eine rechtsstaatlich und demokratisch organisierte Gesellschaft fungieren, werden vielerorts plötzlich als kontingent betrachtet und zum Objekt des politischen Entscheidungsprozesses gemacht: Die Mehrheit sieht sich so legitimiert, z.B. als Massnahme der Terrorismusbekämpfung die Rechte von Minderheiten nach Gutdünken einzuschränken, oder die Zuschreibung des Rechts auf politische Partizipation scheint plötzlich von der Bereitschaft, eine bestimmte Person oder Partei zu wählen, abhängig gemacht zu werden. Auch auf der Ebene der wissenschaftlich-theoretischen Auseinandersetzung spiegelt sich diese zunehmende Skepsis gegenüber der Idee universell rechtfertigbarer Menschenrechte. Verschiedene Perspektiven schreiben sich zu, den scheinbar neoliberalen oder neokolonialen Impetus hinter den Menschenrechten, der globalen Menschenrechtsbewegung oder der Menschenrechtssprache entlarvt zu haben, welche, so der Vorwurf, im Grunde nur westlichen Staaten mit hegemonialen Absichten als politische Mittel zur Durchsetzung ihrer eigenen Ideologie dienen.

Tatsächlich, Menschenrechte und der menschenrechtliche Diskurs werden missbraucht – von autoritären und nicht-autoritären Staaten des globalen Südens, Nordens, Westens und Ostens. Dieser Missbrauch pervertiert die Idee hinter den Menschenrechten, delegitimiert sie jedoch noch in keinster Weise. Und ja, die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und die darauffolgende Verankerung verschiedener Menschenrechte als verbindliche Normen des internationalen Rechts haben nicht dazu geführt, die Welt von jeglichen Ungerechtigkeiten und Missständen zu befreien. Trotzdem – oder gerade deshalb – sind diese grundsätzlichen Normen weiterhin zentral. Globale Herausforderungen wie die Bekämpfung des Klimawandels, des Terrorismus und der organisierten Kriminalität, globale Phänomene wie Pandemien, Digitalisierung oder die Entwicklung neuer Technologien (wie beispielsweise autonome Waffensysteme) bringen neue Risiken für die Menschenrechte mit sich – und gerade in Hinblick auf diese Herausforderungen wäre ein verstärktes Bekenntnis zu und eine Orientierung an diesen grundsätzlichen Rechten, welche allen Individuen zukommen, wichtig und hilfreich.

Auch im innerstaatlichen Kontext widerspiegelt sich die zunehmende Abkehr vom Bewusstsein, dass sowohl der verfassungsmässige als auch der internationale Schutz von Grund- und Menschenrechten zentral ist und von entsprechenden Massnahmen begleitet werden muss, in vielerlei Hinsicht. Als Antwort auf die Bedrohung durch terroristische Organisationen oder Einzeltäter*innen ist plötzlich die Bereitschaft da, die grundlegenden Rechte von Verdächtigen massiv zu beschneiden – auch bevor diese überhaupt eine Straftat verübt haben und auch wenn es sich dabei um Kinder handelt. Der entsprechende Gesetzesentwurf ist bei nationalen und internationalen Expert*innen auf massive Kritik und Ablehnung gestossen. Oder, um ein anderes Beispiel zu bemühen: Wenn es um die Stringenz und die Überwachung der innerstaatlichen Umsetzung der Menschenrechte geht, spielen – so hat es die internationale Gemeinschaft vor Jahrzehnten bereits betont — nationale Menschenrechtsinstitutionen (NMRI) eine zentrale Rolle. Diese sollen möglichst stark und unabhängig institutionalisiert sein, um ihr Mandat wahrnehmen zu können. Nachdem die Schweiz als eines der letzten europäischen Länder endlich auch soweit ist, eine solche Institution einzurichten, überzeugt der Entwurf dazu in verschiedener Hinsicht. Gleichzeitig sieht er ein Budget vor, welches es einer solchen NMRI kaum ermöglichen wird, ihre wichtigen Aufgaben seriös wahrzunehmen. Auch wenn vielen die Forderung zum Einhalten der Menschenrechte nicht mehr zeitgemäss, notwendig oder opportun erscheint – sie muss uns, auch monetär ausgedrückt, etwas wert sein.

Doch, ob am 10. Dezember 1948 oder 2020 – diese Forderung wird ihre Legitimität, ihre Wichtigkeit und ihre universelle Notwendigkeit nie einbüssen. Gerade in diesen Zeiten, wo die Menschenrechte – hier und anderswo – unter Druck sind, ist es zentral, für diese einzustehen, sie zu verteidigen und zu schützen. Sie dienen nichts anderem als uns allen.


Dr. iur. des. Angela Müller (PhD Rechtswissenschaft, MA Political and Economic Philosophy) ist als Senior Policy & Advocacy Managerin bei Algorithm Watch Schweiz tätig. Sie hat einen interdisziplinären akademischen Hintergrund. Seit 2018 engagiert sie sich als Vorstandsmitglied bei der Gesellschaft Schweiz-UNO, seit 2019 als Vizepräsidentin, und ist hier insbesondere für das Netzwerk Multilateralismus und die Arbeitsgruppe zur UNO-Sicherheitsratskandidatur der Schweiz zuständig.

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