Zum Internationalen Frauentag am 8. März schreibt Regula Kolar, Geschäftsführerin NGO-Koordination post Beijing Schweiz, über die UNO-Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 und darüber, wie die Gleichstellung 25 Jahre danach aussieht – auch in der Schweiz.
Die vierte UNO-Weltfrauenkonferenz fand am 15. September 1995 in Peking statt. Quelle: UN Photo.
Unter dem Motto «Gleichstellung, Entwicklung und Frieden» haben sich vom 4. bis zum 15. September 1995 in Peking 189 Staaten zur vierten UNO-Weltfrauenkonferenz versammelt. Am zivilgesellschaftlichen Forum nahmen rund 30’000 Frauen teil, darunter rund dreissig Frauen aus der Schweiz.
Das von der Staatengemeinschaft in Peking verabschiedete Dokument ist die sogenannte Beijing Declaration and Platform for Action, ein wegweisendes Dokument für die Geschlechtergleichstellung. Es listet Punkt für Punkt die Bereiche auf, in denen Frauen[1] 1995 noch immer diskriminiert sind. Es enthält einen umfangreichen Katalog von Massnahmen. Die Aktionsplattform hat keine verpflichtende Wirkung, dennoch ist sie von grossem moralischem und politischem Wert. Die Durchführung der vierten Weltfrauenkonferenz zusammen mit der Lancierung der Aktionsplattform war überaus visionär und revolutionär, bspw. in Bezug auf unbezahlte Care-Arbeit oder die transversale Verankerung von Gender in verschiedenen Lebens- und Gesellschaftsbereichen. Die zwölf Themen der Aktionsplattform sind Armut, Bildung, Gesundheit, Gewalt, Bewaffnete Konflikte, Wirtschaft, Machtverteilung, Institutionen zur Förderung der Gleichstellung, Menschenrechte, Medien, Umwelt sowie Mädchen.
An der vierten UNO-Weltfrauenkonferenz wurde die Beijing Declaration and Platform for Action verabschiedet. Quelle: UN Photo.
Wo steht die Schweiz?
Nach wie vor ist die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in der Schweiz ein Thema, obwohl auf Gesetzesebene auf diesem Gebiet viele Fortschritte erreicht worden sind. So postuliert Art.8 der Bundesverfassung ein Gleichheitsgebot und Diskriminierungsverbot unter anderem aufgrund des Geschlechts; seit 1996 gibt es ein Gleichstellungsgesetz; 1997 wurde das UNO-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau* (CEDAW) von der Schweiz übernommen und 2017 die Europaratskonvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention). Dennoch erstreckt sich die Benachteiligung oder Diskriminierung aufgrund des Geschlechts weiterhin auf alltägliche oder auch auf gesetzliche oder strukturelle Fragestellungen.
Das Problem der Rollenstereotype ist in der Schweiz immer noch weit verbreitet. Nach wie vor fehlt es hier an intersektional strategischer Beteiligung zum Beispiel der Medien oder der Sensibilisierung in den Schulen. Denn gerade mit ihrer Breitenwirkung könnte auf diesen beiden Wegen ein anderes, alternativeres Bild zu den klassischen Rollenmodellen gezeigt werden. BIPoC (Black, indigenous and women of color), transgender, nicht-binäre und Frauen mit Behinderung sind besonders betroffen von Stereotypen wie (S)Exotisierung, Rassismus, Unsichtbarmachung und Stummschaltung.[2] Muslimische Frauen werden häufig benutzt, um antimuslimische und rassistische Politik zu legitimieren (Femonationalismus).[3]
Der Frauenstreik 1991 in Zürich. Quellen: ETH Bibliothek, Wikimedia Commons
Ein weiterer Bereich, in dem Frauen diskriminiert werden, ist die Arbeitswelt. Frauen sind in den Führungsetagen nach wie vor untervertreten. Es besteht Lohnungleichheit, darüber hinaus finden sich über die Hälfe der Frauen in sogenannten Teilzeitanstellungsverhältnissen, was Benachteiligungen bei Weiterbildungen oder auch der Sozialversicherung mit sich bringt. Darüber hinaus gehen viele Frauen sogenannten prekären Arbeitsverhältnissen in Tieflohnbranchen mit ungesicherten Arbeitsbedingungen nach. Dies gilt in besonderem Mass für von Mehrfachdiskriminierung betroffene Frauen wie bspw. Frauen mit Behinderungen.
Ein weiterer wichtiger Faktor sind Mängel im Zusammenhang mit der Kinderbetreuung. Denn in der Realität gibt es – trotz Einführung eines nationalen Mindeststandards vor einigen Jahren – diverse Lücken sowohl in der Mutterschafsentschädigung als auch bei der Diskussion um den Elternurlaub, bei der man noch immer ganz am Anfang steht. Dies gilt auch in Bezug auf die ausserhäusliche Kinderbetreuung, welche in der Schweiz wesentlich teurer ist als in den umliegenden Ländern. Darüber hinaus ist Familien- und Erwerbsarbeit für viele Frauen in der Schweiz nicht ohne massive finanzielle Nachteile vereinbar.
Armut ist auch in der Schweiz weiblich, denn alleinerziehende Mütter, Frauen im Alter und kinderreiche Familien sind überdurchschnittlich davon betroffen. Verstärkt wird dies durch verschiedene Regelungen im Kinder- und Scheidungsrecht, die sich oft nachteilig für Frauen auswirken.
Geschlechtsspezifische Gewalt, insbesondere Gewalt gegen Frauen (inkl. Frauenhandel und Zwangsheirat), ist nach wie vor virulent in der Schweiz, wiederum besonders ausgeprägt bei von Mehrfachdiskriminierung betroffenen
Frauen und Mädchen. Das verdeutlicht sich nicht so sehr auf der juristischen Ebene, hier ist in den letzten Jahren viel erreicht worden, sondern wenn es um die praktische Umsetzung geht.
In Bezug auf Migration sind Frauen ganz besonders betroffen, denn Migrantinnen müssen sich überdurchschnittlich oft mit unterqualifizierten Arbeitsverhältnissen abfinden. Migrantinnen sind oft gezwungen, mehrere Teilzeitjobs anzunehmen. Auf dem Arbeitsmarkt werden sie vom privaten und öffentlichen Sektor strukturell diskriminiert, besonders wenn sie ein Kopftuch tragen. Migrantinnen sind zurückhaltend bei der Beantragung von Sozialversicherungen aus Angst, ihren rechtlichen Status zu verlieren oder zu verschlechtern.
Trotz der Tatsache, dass Migrant*innen 25% der Wohnbevölkerung ausmachen, sind sie von politischen Prozessen und Entscheidungen völlig ausgeschlossen (Ausnahmen für kantonale Entscheidungen und Wahlen: Kantone Neuchâtel und Jura für Migrant*innen mit einem C Aufenthaltsstatus.) Darüber hinaus werden ihre angestammten Ausbildungsnachweise oft nicht anerkannt. Rechtlich gesehen sind diese Frauen oft in einer defensiven Position, sei es bei Gewalt in der Ehe oder betreffend Aufenthaltsstatus.
Verhütungsmittel sind – im Gegensatz zu den Kosten von Abtreibungen – im Leistungskatalog der obligatorischen Krankenversicherung nicht enthalten, was gerade Migrantinnen zu einer vulnerablen Gruppe macht. Dasselbe gilt auch für den Zugang zur reproduktiven Gesundheit. Die Anstrengungen zur Verbesserung der Gesundheit dieser speziell verletzlichen Bevölkerungsgruppe ist deshalb von zentraler Bedeutung, da Frauen mit Migrationshintergrund oftmals sozial isoliert sowie finanziell und sprachlich von ihren Ehemännern oder Verwandten abhängig sind.
Neben den sozioökonomischen Faktoren sind Sprachschwierigkeiten bzw. die mangelnde oder nicht zugängliche Verfügbarkeit von Informationen in vielen Sprachen entscheidend. Mangelnde Anerkennung, wenn es um ihre beruflichen Kompetenzen geht, struktureller Rassismus, eine belastende Arbeitssituation und eventuell eine ungeregelte Aufenthaltssituation sind Faktoren, die die Gesundheit von Müttern und Kindern mit Migrationshintergrund verschlechtern.
Von Mehrfachdiskriminierung sind insbesondere auch Frauen und Mädchen mit Behinderungen betroffen. Dies zeigt sich unter anderem im Rahmen der ungleichen sozialen Sicherheit, Stereotypen bei der Berufswahl und im öffentlichen Bewusstsein, geringerer Erwerbstätigkeit und prekäreren Arbeitsverhältnissen gegenüber Männern mit und Frauen ohne Behinderungen, erhöhter Gewaltbetroffenheit, Diskriminierung im Bereich von Sexualität und Familienplanung und mangelnden Möglichkeiten zur Selbst- sowie zur politischen Mitbestimmung.
Die Themen Transgender und «Geschlechtsidentität» werden weder in Bundes- oder Kantonsverfassungen noch auf Gesetzesebene explizit genannt. Dieser fehlende Schutz steht in eklatantem Widerspruch zur von Diskriminierung, Stigmatisierung und Gewalt geprägten Lebensrealität dieser Menschen.
Wir fordern:
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Die stetige Sensibilisierung der Behörden, zuständiger Instanzen, aber auch der breiten Bevölkerung ist von zentraler Bedeutung. Dafür braucht es eine nationale Gleichstellungsstrategie sowie ein Mainstreaming, welche auch die Prävention und Bekämpfung von Mehrfachdiskriminierungen miteinschliessen.
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Um Gleichstellung in verschiedenen Bereichen (politische Ämter, wirtschaftliche Führungspositionen…) zu erreichen, sind freiwillige Massnahmen ungenügend. Es braucht Sondermassnahmen wie Quoten und gesetzliche Regulierung und Sanktionierung, um hier endlich die seit langem gesetzten Ziele zu erreichen.
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Nebst einem Ausbau der finanziellen Mittel für das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) sowie die kantonalen Gleichstellungsbüros müssen deren politische Positionen und Einfussmöglichkeiten gestärkt werden.
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Die Schweiz braucht einen nationalen Aktionsplan gegen häusliche und geschlechtsspezifische Gewalt, namentlich auch gegen Gewalt an besonders vulnerablen/von Mehrfachdiskriminierung betroffenen Frauen* und Mädchen*. Die Istanbul-Konvention muss umfassend und ohne Einschränkungen und Diskriminierung umgesetzt werden.
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Das Stimm- und Wahlrecht muss auf alle Einwohner*innen ausgeweitet werden.
Trotz der 1995 in Peking eingegangenen Verpflichtungen, in den zwölf kritischen Problembereichen strategische und mutige Massnahmen zu ergreifen, und trotz einiger daraus resultierender Fortschritte in diesen Bereichen, kann heute kein einziges Land behaupten, die Gleichstellung der Geschlechter erreicht zu haben.
Das Erinnern an den 25. Jahrestag der Aktionsplattform von Beijing ist daher ein neuer Auftakt, um endlich die Menschenrechte aller Frauen und Mädchen zu verwirklichen und wird ein Moment der globalen Mobilisierung sein. Das auf 2021 verschobene Generation Equality Forum wird sich Beijing +25 in Verbindung mit der Agenda 2030 widmen. Das Forum ist ein entscheidender Moment der Mobilisierung und wurzelt grundlegend in derselben Logik, die vor fünfundzwanzig Jahren den bedeutenden Fortschritt bei der Verabschiedung der Aktionsplattform von Beijing möglich machte: die Kraft des Aktivismus, der feministischen Solidarität und der Führungsrolle der Jugend, um einen transformativen Wandel zu erreichen.
Die Hauptziele des Forums werden sein, eine neue und mutige feministische Agenda zu entwerfen, die im Rahmen von sechs Aktionsbündnissen, sogenannten Action Coalitions, entwickelt wird. Sie sollen es ermöglichen, während der UNO-Aktionsdekade (2020-2030) greifbare Ergebnisse zur Gleichstellung der Geschlechter zu erzielen, um die Ziele der nachhaltigen Entwicklung zu erreichen.
Zivilgesellschaftliche Organisationen in der Schweiz haben sich vertieft mit den Themen der Aktionsbündnisse auseinandergesetzt und für die Schweiz wie auch übertragen auf die Ebene einer globalen Agenda Forderungen erarbeitet. Diese sowie ein spannender Bericht zweier Zeitzeuginnen von 1995 sind in der Publikation «25 Jahre Beijing Declaration and Platform for Action. Wo steht die Schweiz?» ab Mitte März auf postbeijing.ch nachzulesen.
[1] Gender bzw. Geschlecht ist sozial konstruiert. Jenseits des binären Frau-Mann-Schemas gibt es weitere Geschlechtsidentitäten und soziale Geschlechter. Menschen können sich (ausschliesslich oder nicht ausschliesslich) weiblich oder männlich identifizieren, werden als Mädchen/Frauen bzw. Jungen/Männer gelesen und/oder als Frauen bzw. Männer sozialisiert. «Frauen und Mädchen» erleben Mehrfachdiskriminierung in Bezug auf Genderidentität, sexuelle Orientierung, Religion, Rassifizierung, Klasse und Herkunft.
[2] Dos Santos Pinto, Jovita: Besitzen, s/exotisieren, vergessen – Sklaverei, Einbürgerung und Rassisierung um 1798. Vortrag auf der Tagung «Von der Kolonisierung zur Globalisierung. Warum wir Schweizer Geschichte neu denken sollten». Bern: Universität Bern 2018, unveröfentlichtes Manuskript.
[3] Farris, Sara: Die politische Ökonomie des Femonationalismus. In: Feministische Studien, 2011, Hef 2, Band 29, 321-334.