Die Neutralität ist vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und der Sicherheitsratskandidatur der Schweiz wieder hochaktuell. Viele sehen die Neutralität aufgrund dieser Entwicklungen in Gefahr. Doch eine Sicherheitsratsmitgliedschaft der Schweiz ist mit deren Neutralität gut vereinbar, sie ergänzt sie sogar.

Dieser Beitrag ist der erste der neuen Blogserie «Security +» in Zusammenarbeit mit dem Think Tank foraus. Diese setzt sich vor dem aktuellen Hintergrund der Sicherheitsratskandidatur der Schweiz mit denjenigen Themen auseinander, mit welchen die Schweiz im Sicherheitsrat höchstwahrscheinlich konfrontiert werden wird und analysiert diese mit Hinblick auf die Schweizer Aussenpolitik.

Neutralität entstand parallel zu den Nationalstaaten zu einer Zeit, als Krieg als legitimes Instrument der Aussenpolitik galt. Von der Möglichkeit, nicht Partei zu ergreifen und damit nicht in kriegerische Auseinandersetzungen miteinbezogen zu werden, erhofften sich die betreffenden Staaten Vorteile für das Erreichen ihrer jeweiligen aussenpolitischen Ziele. Typischerweise hatten sie andere Prioritäten, wie etwa Grossbritannien zu gewissen Zeiten des Aufbaus seines Imperiums, oder sie wollten es vermeiden, militärisch in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Letzteres galt vor allem für kleinere Staaten, die von deutlich stärkeren Ländern umgeben waren. Schliesslich konnte es darum gehen, den innenpolitischen Zusammenhalt zu wahren, wenn innerhalb eines Landes die Vorlieben verschiedenen Kriegsparteien galten, wie dies für die Schweiz im Ersten Weltkrieg der Fall war.

Die Wirksamkeit der Neutralität setzt voraus, dass sie von den anderen, kriegführenden Staaten anerkannt wird. Diese müssen ein Interesse an der Neutralität der betreffenden Länder haben. Diese Interessen können militärisch-taktischer Natur sein, oder darin bestehen, dass über solche Länder gewisse politische oder wirtschaftliche Beziehungen weiterlaufen, oder humanitäre Funktionen wahrgenommen werden. Aus dieser letzten Funktion, zu der früher etwa die Internierung von Kriegsgefangenen gehörte, entwickelte sich mit der Zeit die solidarische Dimension der Neutralität. Gerade in Europa stehen neutrale Staaten für den Einsatz der internationalen Friedensförderung. Auch diese Funktion der Neutralität setzt das Interesse der übrigen Staaten voraus.

Neutralität ist nicht mit Teilnahmslosigkeit zu verwechseln: Die rechtlich verpflichtete Abstinenz neutraler Staaten beschränkt sich auf die Teilnahme an militärischen Auseinandersetzungen Dritter, sei dies durch direktes Eingreifen oder über die Lieferung von Waffen sowie anderweitig militärisch nutzbarer Güter. Jenseits dieser Verpflichtungen definiert jedes neutrale Land eigenständig, wie es seine Neutralität handhaben will. Diese sogenannte Neutralitätspolitik kann sich über die Zeit hinweg auch wandeln. Während des Kalten Krieges verfolgte die Schweiz eine sehr weit gefasste Neutralitätspolitik und trat selbst den Vereinten Nationen (UNO) nicht bei. Nach dem Fall der Berliner Mauer begann die Schweiz, wirtschaftliche UNO-Sanktionen systematisch zu übernehmen. War der UNO-Sicherheitsrat durch das Veto eines ständigen Mitglieds blockiert, übernahm die Schweiz auch immer wieder Sanktionen der Europäischen Union (EU). Die Begründung dafür lautete, dass diese Länder dieselben Werte vertreten wie die Schweiz und daher ein Abseitsstehen weder verstanden würde noch begründet wäre. Bundesrätin Micheline Calmy-Rey interpretierte die Neutralität sogar als Pflicht für die Schweiz, sich weltweit für den Schutz der Menschrechte und die Stärkung des Völkerrechts einzusetzen.

Neutralität ist auch nicht mit Pazifismus gleichzusetzen: Die allermeisten neutralen Staaten besitzen eine Armee und sind bereit, sich im Falle eines Angriffs militärisch zu verteidigen. Viele neutrale Staaten beteiligen sich auch regelmässig an militärischen Operationen der UNO. Hingegen ist die Neutralität nicht vereinbar mit der Mitgliedschaft in einem Militärbündnis, wie beispielsweise der Nordatlantischen Verteidigungsorganisation (NATO). Eine solche ist ausgeschlossen, da ein Land nicht gleichzeitig versprechen kann, sich in einem Konflikt neutral zu verhalten und ausgewählte Länder, nämlich die Bündnispartner, militärisch zu unterstützen. Auf einer politisch-philosophischen Ebene kann allerdings argumentiert werden, dass neutrale Staaten eine grössere Distanz zu militärischen Mitteln der Konfliktlösung pflegen als andere Staaten. Sie beanspruchen für sich das Recht zum ‘Nicht-Krieg’. Auch lässt sich die Überlegung anstellen, dass je mehr Länder neutral wären, umso geringer die Wahrscheinlichkeit eines Krieges wäre.

Von aktueller Bedeutung sind vor allem zwei Fragen: diejenige zum Verhältnis der Neutralität zur Mitgliedschaft im UNO-Sicherheitsrat sowie die Rolle der Neutralität in Bezug auf den Krieg in der Ukraine.

Die Neutralität und die kollektive Sicherheit der UNO bilden keine Gegensätze, sondern sie ergänzen sich: Würde die UNO-Charta perfekt eingehalten, gäbe es keine Kriege mehr. Somit wäre die Neutralität hinfällig. Wenn es trotzdem Kriege gibt und die UNO einschreitet, ist diese keine Kriegspartei, sondern als Weltpolizei im Auftrag der Staatengemeinschaft unterwegs. Folglich greift die Neutralität auch nicht, weil es sich nicht um einen herkömmlichen Krieg handelt. Was spezifischer den Sicherheitsrat betrifft, gibt es keinen Grund, wieso die Mitwirkung in diesem Gremium für ein neutrales Land besondere Probleme aufwerfen sollte, ganz im Gegenteil: Gerade die nicht-ständigen Mitglieder bürgen für die breite Abstützung des Rates und eine an der Sache orientierte Politik. Ein neutrales Land dürfte am wenigsten verdächtigt werden, machtpolitisch zu denken und noch weniger so zu handeln. Neutrale Staaten tragen zum Ansehen und zur Legitimität des Sicherheitsrates und seiner Entscheidungen bei. Dagegen zu argumentieren würde auch die Mitgliedschaft dieser Länder in den Vereinten Nationen in Frage stellen.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine stellt nach dem Angriff von Irak auf Kuwait im Jahre 1990 den markantesten Bruch des Völkerrechts dar. Ein neutrales Land kann gar nicht anders, als einen solchen Schritt zu verurteilen. Die Verhängung politischer oder wirtschaftlicher Sanktionen, auch wenn diese nicht durch die UNO beschlossen wurden, fällt in den Bereich der Neutralitätspolitik. Wichtig ist, dass die rechtlichen Neutralitätsverpflichtungen eingehalten werden. Auch sollten sich die politischen Entscheidungsträger einer allzu markigen Kriegsrhetorik enthalten. Je ausgleichender die Politik neutraler Staaten ausfällt, umso grösser sind deren Chancen, im Falle einer Dialogoption eine passive oder womöglich sogar aktive Rolle zu spielen. Eine solche käme der gesamten Staatengemeinschaft zugute und würde deren Interesse an der Neutralität weiter festigen.

Laurent Goetschel ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel und Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung (swisspeace). Er studierte Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der Universität Genf und am Institut de hautes études en relations internationales. Er war Journalist bei Associated Press, persönlicher Mitarbeiter von Bundesrätin Micheline Calmy-Rey und Leiter des Nationalen Forschungsprogramms „Schweizer Aussenpolitik“ (NFP42). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Friedens- und Konfliktforschung sowie die Aussenpolitikanalyse. Er ist Mitglied der Kommission für Forschungspartnerschaften mit Entwicklungsländern (KFPE) und stellvertretender Leiter des Development and Cooperation Network von swissuniversities (SUDAC).

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