Corinne Fleischer ist die Direktorin des UNO-Welternährungsprogramm für den Nahen Osten und Nordafrika – ein Interview.
Können Sie sich kurz vorstellen und uns schildern, wie Sie zur Direktorin des UNO-Welternährungsprogramms für den Nahen Osten und Nordafrika wurden?
In Winterthur geboren und aufgewachsen, habe ich mich für ein Studium in Genf entschieden. Ein paar Jahre nach dem Studium habe ich meine humanitäre Karriere beim IKRK begonnen. Für das IKRK war ich im Sudan tätig, bevor ich meinem Mann, der für die deutsche Entwicklungshilfe gearbeitet hat, nach Äthiopien gefolgt bin. In Äthiopien habe ich zuerst ein Architekturbüro aufgebaut und mich dann der UNO angeschlossen. Nach und nach bin ich dann in verschiedenen Funktionen auch international für die UNO tätig geworden: im Bereich der Logistik, des Einkaufs, des Fundrisings und schliesslich auch aktiv in den Operationen des Welternährungsprogramms (WFP). Diese Tätigkeiten haben mich von Äthiopien in den Sudan geführt, anschliessend ins Regionalbüro nach Asien, von dort in unser Hauptquartier nach Rom und dann nach Syrien, wo ich für zwei Jahre als Vertreterin des WFP tätig war. Und nun bin ich in Kairo und bin zuständig für die Aktivitäten des WFP im Nahen Osten und in Nordafrika.
«Geht ins Feld! Bleibt nicht in den Hauptquartieren, dort könnt ihr die Arbeit der UNO nie richtig verstehen.»
In Ihrer Karriere im Bereich des Multilateralismus haben Sie sicher viel erlebt. Was war Ihr eindrücklichstes Erlebnis?
Einmal habe ich einen Konvoi geleitet, um ein Vertriebenencamp in Südosten von Syrien zu versorgen. Damals waren an die 20’000 Leute auf der Flucht vor ISIS von Syrien nach Jordanien, als die Grenze zu Jordanien geschlossen wurde. Die Leute waren eingeschlossen, sie konnten weder nach Jordanien noch zurück in ihre Heimat. Um dieses Camp zu erreichen, mussten wir Kontrollgebiete von verschiedenen lokalen und internationalen Parteien durchqueren, was sehr viel Verhandlungsgeschick erforderte. Als wir schliesslich mitten in der Wüste unser Lager aufschlagen konnten, wurden wir zwei Mal von hungernden Leuten angegriffen, welche die Nahrungsmittel rauben wollten und uns zur Flucht zwangen. Als wir zurückkehrten, begann eine Schiesserei und wir mussten uns definitiv zurückziehen. Die Sicherheit war ein Aspekt, die Armut und die Verzweiflung der Menschen ein anderer. Die Menschen vor Ort waren in der Wüste isoliert und hatten keinen Ausweg. Wir waren die ersten neutralen Menschen, mit welchen sie sprechen konnten. Wir waren ein Art Lichtblick. Es war sehr eindrücklich zu sehen, wie sich die UNO-Mitarbeiter*innen jeder einzelnen Person angenommen haben und versucht haben, deren Schicksal zu lindern.
Was macht eigentlich das Welternährungsprogramm?
Unser Ziel ist eine Welt ohne Hunger. Um das zu erreichen, hat das WFP ein doppeltes Mandat: saving lives und changing lives – Leben retten und Leben verändern. Unsere Hauptaufgabe ist es, Hilfe zu leisten bei Hungersnöten durch Kriege und Naturkatastrophen, aber auch als Folge von Pandemien. Unter dem Einfluss der Covid-19-Pandemie verschlechtert sich die weltweite Situation kontinuierlich. Noch vor einem Jahr waren 135 Millionen Menschen stark von Ernährungsunsicherheit betroffen. Nur in einem Jahr hat sich diese Zahl verdoppelt. Davon sind 34 Millionen Menschen fast am Verhungern. Insgesamt leiden 800 Millionen Leute weltweit an Ernährungsunsicherheit. Wir versuchen auch mit Nahrungsmittelhilfen Leuten wieder auf die Beine zu helfen, damit sie sich in Zukunft alleine versorgen können. Das ist das changing lives-Mandat. In Syrien, Jemen und im subsaharischen Afrika helfen wir zum Beispiel Kleinbauern mehr anzubauen, um die Bevölkerung in Zukunft besser versorgen zu können. Und wir bieten Essen an Schulen an, damit Kinder in die Schule kommen und so besser für die Zukunft gerüstet sind. Wir helfen auch Regierungen Sozialdienste aufzubauen und zu verbessern. Letztes Jahr hat das WFP den Friedensnobelpreis als Anerkennung für seine Arbeit im Kampf gegen die Instrumentalisierung von Hunger in Konflikten erhalten.
«Wir waren die ersten neutralen Menschen, mit welchen sie sprechen konnten. Wir waren ein Art Lichtblick.»
Sie haben selbst mehrere Jahre für die UNO in Syrien gearbeitet und die Situation vor Ort miterleben können. Was hat Sie am meisten erschüttert? Hat die UNO in Syrien versagt?
Die Syrer*innen sind elf Jahre durch diesen Konflikt gegangen und haben die Hoffnung nie aufgegeben. Sie haben immer daran geglaubt, dass sie eines Tages ihr Land und ihr Leben wieder aufbauen können. Das Traurige ist, dass nun die Wirtschaft komplett am Boden liegt. Obwohl viele Gebiete Syriens wieder einigermassen an Stabilität gewonnen haben, haben die Syrer*innen die Hoffnung aufgegeben und sehen keine Zukunft mehr für ihre Kinder. Die Syrer*innen, inklusive unsere Mitarbeitenden gehen langsam, aber sicher in die Knie. Hat die UNO versagt? Die Politik hat versagt. Die Syrer*innen leiden seit Jahren und es herrscht ein komplettes diplomatisches Vakuum in Syrien. Keine Regierung spricht wirklich mit der syrischen Regierung. Die einzige Organisation, die das macht, ist die UNO. Und wir befinden uns zwischen Hammer und Amboss. Die Regierung hält uns als voreingenommen, da wir nur die Interessen der Spenderstaaten vertreten würden und gewisse Geldgeber*innen werfen uns vor, zu eng mit der syrischen Regierung zu kooperieren. Aber diese Vorwürfe sind für mich ein Zeichen, dass wir unsere Arbeit richtig machen.
Was geben Sie jungen Leuten mit auf den Weg, welche sich für eine Karriere bei der UNO interessieren?
Geht ins Feld! Bleibt nicht in den Hauptquartieren, dort könnt ihr die Arbeit der UNO nie richtig verstehen. An der front line – an vorderster Front — lernt man extrem viel und macht sich Freunde fürs Leben. Sowas erlebt man in den Hauptquartieren nicht.